Was für eine Frage…

Seit Jahren schon plagen sich „Experten“, Gurus und Motivatoren aus der Persönlichkeitsentwicklung mit der Frage, ob man Ziele haben sollte oder nicht. Wie bei so vielen Dingen des Lebens gibt es gute Argumente für beide Sichtweisen. Doch welche ist die „richtige“?

Ich kann, möchte und werde dir nicht sagen, welcher Lebensphilosophie du folgen sollst. Genauso möchte ich nicht wiederholen, worüber schon so viele andere debattiert und argumentiert haben. Stattdessen möchte ich versuchen, das Beste aus beiden Ansätzen herauszuziehen und einen Kompromiss zu finden, der in unsere heutige (überaus komplizierte) Zeit passt.

Sich treiben lassen?

Viele sagen, dass Ziele schädlich sind, weil sie unseren Ehrgeiz überstrapazieren und Druck auslösen. Sie können zu einem Tunnelblick führen, sodass wir immer nur das nächste Ziel jagen, anstatt den Moment zu genießen. Das kann wirklich zum Problem werden, denn die vielleicht glücklichsten Menschen sind jene, die im Hier und Jetzt leben und immer etwas finden, wofür sie dankbar sein können.

Ein schöner Ansatz. Aber auch ein sehr idealistischer Ansatz. Das Hier und Jetzt ist nicht immer schön, vor allem nicht, wenn man gerade vor großen Herausforderungen steht. Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich mich damals hätte treiben lassen. Offen gesagt habe ich keine Ahnung, was genau passiert wäre, aber wir können uns sicher sein, dass ich jetzt gerade nicht diese Zeilen tippen würde.

Was mich in meiner schwersten Phase am Leben gehalten hat, war die Vision eines glücklicheren und besseren Lebens. Der Gedanke, dass mein Leben weitergehen würde und nicht so bleiben müsste, wie es war, gab mir Kraft. Es waren konkrete Ziele, die mich aus der Lethargie zogen und mir frischen Aufwind gaben. Vor allem aber gaben sie mir Orientierung. Orientierung und Richtung inmitten einer Zeit, in der ich einfach nicht wusste, wohin. Es war ein Segen, irgendetwas zu tun und irgendwohin zu gehen, anstatt da zu bleiben, wo man ganz sicher unglücklich war.

Sich Ziele zu setzen, ist ein Akt der Eigenverantwortung und meiner Meinung nach auch ein großes Stück Selbstliebe. Sich selbst an die Hand zu nehmen und sich an einen hoffentlich besseren Punkt im Leben zu führen, ist heilsam und erzeugt viel Selbstvertrauen. Kein Wunder also, dass ich ganz klar FÜR Ziele bin.

Sich treiben lassen!

Dazu muss ich aber auch sagen, dass ich genauso die Schattenseite dieser Lebensphilosophie zu spüren bekommen habe. Eigenverantwortung und die daraus resultierenden Erfolge können uns tatsächlich einen Tunnelblick verleihen.

Erfolgserlebnisse fühlen sich wunderbar an. Deshalb wollen wir mehr davon. Wir fangen an, unseren eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und wollen sehen, wie weit sie uns tragen können. Also, anstatt wertzuschätzen, was wir bereits erreicht haben und den Moment zu genießen, suchen wir immer wieder das nächste Abenteuer und blicken nach vorne. Dabei bietet das Hier und Jetzt oft viel Wunderbares. Es kann uns sehr viel über Achtsamkeit, Dankbarkeit und über uns selbst lehren. Darüber hinaus kann es sehr wohltuend sein, die Führung für einen Moment abzugeben und zu schauen, was das Leben bereithält. Es kann sich befreiend anfühlen, nicht immer die nächsten Schritte selbst planen zu müssen, sondern herauszufinden, wohin das Leben uns trägt. Falls es das dann auch tut!

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Zielsetzungen und eine übermäßige Eigenverantwortung dazu führen können, dass wir das „Große Ganze“ aus den Augen verlieren. Wer sich selbst ganz streng in der Verantwortung für geradezu alles sieht, glaubt eher nicht an das Schicksal, den Zufall, etwas Göttliches, etwas Kosmisches oder die Mächte des Universums (oder wie auch immer du das nennen magst).

Eine ganze Weile lang war ich so sehr auf mich, meine Ziele und meine Erfolge fixiert, dass ich vergessen habe, dass es noch eine Welt da draußen gibt. Dass es noch Milliarden andere Menschen gibt, die alle mit ihrem eigenen Schicksal zu kämpfen haben. Dass es da draußen so viele kleine und große Wunder gibt, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdienen. Es ist schwer, einen Blick dafür zu haben, wenn die Perspektive nur auf die eigene Zukunft ausgerichtet ist. Und so kam ich in den letzten Jahren in den Genuss des Loslassens und stellte fest, dass das Leben auch auf diese Weise viel zu bieten hat.

Ein erstaunlich logischer Kompromiss

In dieser Zeit durfte ich jedoch auch lernen, dass es mir nicht gut tut, zu lange die Füße hochzulegen und zu schauen, was das Leben für mich bereithält. Denn genau in dieser Zeit wurde die Welt von einer Pandemie und ihren weitreichenden Konsequenzen überrascht. Und was seitdem alles los ist, muss ich dir wohl nicht erzählen.

Vor allem in solchen Situationen möchte ich mich nicht darauf verlassen, dass sich schon alles irgendwie regeln wird. Vielleicht wird es das. Vielleicht aber auch nicht.
Sicher wissen wir nur, dass wir uns auf uns selbst verlassen können. Deshalb ist jeder gefragt, Verantwortung zu übernehmen und Schritte einzuleiten, die nicht nur ihn, sondern uns alle als Gemeinschaft weiterbringen. Je mehr Menschen das tun, desto besser wird das Ergebnis für uns alle. Je mehr Menschen die Füße hochlegen und mal schauen, was passieren wird, desto größer wird die Überraschung am Ende werden (fraglich, ob sie positiv oder negativ ausfallen wird), und desto mehr überlassen wir die Bühne jenen, die sich als Hauptakteure im Weltgeschehen darstellen.

Am Ende stellen wir also fest, dass beide Philosophien ihre Vor- und Nachteile haben. Was für eine Überraschung 😉

Da wir das nun wissen, warum entscheiden wir uns dann nicht für den logischsten und offensichtlichsten Kompromiss? Wieso ziehen wir nicht das Beste aus beiden Perspektiven und Ansätzen heraus?

Stell dir vor, du wärst Kapitän auf einem kleinen Boot und würdest den großen Ozean des Lebens überqueren. Würdest du bei schönem Wetter und günstigem Wind nicht die Füße hochlegen und den Moment genießen? Es gäbe doch keinen Grund, sich hinter das Steuer zu klemmen und so schnell wie möglich dem Paradies zu entkommen.
Und würdest du dich nicht genauso schnell wieder hinter das Ruder klemmen, sobald ein Sturm aufzieht? Würdest du nicht alles tun, um der Katastrophe zu entgehen und einen Ort ansteuern, an dem es dir besser gehen wird?

Manchmal verlangt das Leben von uns, dass wir stark sind und kämpfen. Dass wir uns weiterentwickeln. Und genau in diesen Phasen ist es gut und wichtig, klare Ziele zu haben und zu wissen, wohin man gehen möchte und in welche Richtung man sich entwickeln will.

Genauso gibt das Leben uns Phasen, in denen wir die Früchte unserer Arbeit genießen dürfen. Phasen, in denen wir das sogar tun sollten! Nur so entwickeln wir wahre Wertschätzung für uns, unsere Leistungen und alles, was das Leben schön macht.

Warum muss man sich immer so versteifen? Warum nur an eine „Wahrheit“ glauben? Warum nur nach einer Philosophie leben? Es gibt mehr als nur Schwarz und Weiß. Deshalb versuche ich, so weit wie möglich über den Tellerrand hinauszusehen. Schließlich passt ein guter Kapitän auch hin und wieder Richtung, Geschwindigkeit und Strategie an, je nachdem, wie die See gerade ist 😉

In der Hoffnung, dich mit diesen Zeilen ein wenig motivieren und inspirieren zu können, verabschiede ich mich ins Wochenende. Ich wünsche dir viel Freude beim Reflektieren dieser Gedanken und eine wunderbare Zeit.

Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael

 

Titelbild: Unsplash.com, Daniele Levis Pelusi