Ein paar Gedanken, die uns neue Perspektiven auf Schmerzen eröffnen…

Vor wenigen Tagen erst klopfte das Schicksal an meine Tür, um mich an eine kostbare Lektion über das Leben zu erinnern. Ich war zu Hause, wartete auf einen wichtigen Anruf und hatte schlauerweise mein Telefon in meinem weit entfernten Arbeitszimmer liegen lassen. Daran wurde ich schlagartig erinnert, als ich in der Ferne das Klingeln hörte. Also, was macht man, wenn das Telefon klingelt und man den Anruf auf keinen Fall verpassen will? Richtig, man rennt los, wie vom Hafer gestochen.
Und genau das tat ich, quer durch das Schlafzimmer, in atemberaubendem Tempo durch den langen Flur, mit wehendem Haar am Wohnzimmer und dem Bad vorbei, in brennender Ekstase und Euphorie, mit dem guten Wissen, es rechtzeitig zu schaffen.

Doch es kam, wie es kommen musste: Am Eingang des Arbeitszimmers angekommen, wurde mein hohes Tempo mir zum Verhängnis. Die Socken hatten nicht genügend Traktion auf dem Hartboden und ich schaffte es nicht, die trickreiche Kurve in den Raum hinein zu nehmen, welche übrigens die Spitzkehren einer Rennstrecke harmlos aussehen lässt. Das Unvermeidliche geschah und mein kleiner Zeh kollidierte mit dem massiven Bücherregal am Eingang des Raums. Ein markerschütternder Knall leitete meinen Sturz ein. Wie in Zeitlupe fiel ich zu Boden, Flüche speiend, die selbst die Götter erröten ließen, und landete schließlich auf dem Rücken wie ein umgefallener Käfer, wo ich in eine wilde Mischung aus Wehklage und Lachanfall verfiel. So lag ich dort, schaute an die Decke, akzeptierte die Entscheidung des Schicksals, mir diesen Anruf zu verwehren, und dachte über das Leben nach.

Oder einfacher gesagt: Es tat weh. Und es war eine tolle Gelegenheit, über Schmerzen und ihre tiefere Bedeutung nachzudenken.

Warum wir leiden

Keine Sorge, es geht hier nicht um meinen Zeh. Ohnehin wäre es nicht richtig, ihn noch „meinen“ Zeh zu nennen, denn zum größten Teil gehört er jetzt dem Bücherregal.

Es geht um Schmerzen. WARUM tut uns etwas weh? Warum tut es so höllisch weh, seinen Zeh irgendwo kleben zu lassen? Warum zieht der Schmerz nach dem Tritt gegen das Schienbein bis hoch zum Haaransatz? Ich meine, was soll das? Kann eine solche Kollision nicht einfach ein Geräusch verursachen und es dabei belassen?

Die einfache Antwort lautet: Nein. Denn der Schmerz ist ein hilfreiches System. Er bewahrt uns davor, unseren kostbaren Körper zu zerstören. Stell dir mal vor, ein epischer Gladiatorenkampf wie der zwischen „meinem“ Zeh und einem Massivholzmöbel würde gefühllos an uns vorübergehen. Wie lange würde es wohl dauern, bis wir unseren wertvollen Körper maximal beschädigt hätten?

Der Schmerz erinnert uns daran, dass wir fragil sind. Dass wir Grenzen haben. Er bremst uns und bewahrt uns vor größerem Schaden. Hätte er eine Stimme, so hätte er zu mir gesprochen und gesagt: „Michael, wann willst du dieses verfluchte Regal endlich an eine günstigere Position stellen? Du weißt genau, dass du diesen Kampf nicht gewinnen kannst.“

Aber wer nicht hören will, muss fühlen. Oder in diesem Fall: Da der Schmerz keine Stimme hat, lässt er uns fühlen. Und es ist unsere Aufgabe, genau hinzuhören und die Botschaft zu verstehen.

Jeder körperliche Schmerz ist ein Weckruf. Ein Alarm. Ein Indikator dafür, dass etwas nicht stimmt. Dass etwas in uns dringend Heilung braucht. Also liegt es an uns, schnell zu handeln, Gegenmaßnahmen einzuleiten und/oder Hilfe aufzusuchen.

Es gibt mehr Schmerzen als den körperlichen

Bis hierhin alles logisch, oder? Doch jetzt wird es ein wenig komplizierter. Denn es gibt mehr als nur die körperlichen Schmerzen. Wie du und ich ganz genau wissen, können wir auch seelische Schmerzen empfinden. Das Problematische mit ihnen ist, dass sie erstens unangenehmer sein können als jeder körperliche Schmerz, und zweitens, dass sie deutlich schwieriger zu erkennen und zuzuordnen sind.

Der körperliche Schmerz und seine tiefere Bedeutung sind meistens schnell und einfach zu lokalisieren. Wenn ich mir das Knie stoße, tut es auch genau dort weh. Außerdem wird mir sofort klar, dass ich einen weiteren Stoß vermeiden muss, um weiterem Schaden zu entgehen. Logisch.

Aber seelischer Schmerz äußert sich auf die unterschiedlichsten Weisen. Wir sagen nicht: „Oh, mir tut der Rücken weh. Das muss bedeuten, dass ich immer noch traurig über die gestrige Auseinandersetzung bin.“
Nein, so einfach funktioniert das leider nicht. Oft legt sich einfach nur eine tiefe Niedergeschlagenheit über uns. Wir fühlen uns antriebslos. Es fällt uns schwer, uns für etwas zu motivieren. Wir sind traurig, ohne genau zu wissen, warum eigentlich. Es gelingt uns nicht mehr so recht, zu lächeln.

Man muss sich sehr gut kennen und tief in sich hineinhorchen können, um in der Lage zu sein, ehrlich zu reflektieren, was einen gerade verletzt und beschäftigt. Wer das nicht kann, ist einfach niedergeschlagen, ohne so recht zu verstehen, warum. Aber hier kommt ein tröstlicher Gedanke: Manchmal müssen wir (noch) gar nicht wissen, was genau uns zu schaffen macht.

Manchmal müssen wir nur wissen, DASS etwas nicht stimmt. Das reicht oft aus, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und uns dazu zu bringen, einen ehrlichen Blick auf unsere Situation zu werfen.

Genau DAS ist es, was der Schmerz für uns tut. Er weckt uns auf. Das gilt ebenfalls für den seelischen Schmerz. Er macht uns darauf aufmerksam, DASS wir etwas verändern müssen und hilft uns somit beim größten und wichtigsten Schritt zur Veränderung: Die Erkenntnis.

Ein unerwarteter Freund

Ich versuche den Schmerz als eine Art „Freund“ zu betrachten. Ein guter alter Freund, der an unserem Wohlergehen interessiert ist. Eine Instanz in uns, die uns beschützen will. Der Schmerz muss unnachgiebig sein. Er muss uns wehtun. Das ist seine Pflicht. Denn wäre er nicht so extrem penetrant und unangenehm, würden wir in Versuchung geraten, einfach vor unseren Problemen und Verletzungen davonzulaufen.

Der Schmerz ist ehrlich. Er ist direkt. Er ist fair. Er kommt nicht ohne Grund. Er quält uns nicht aus Spaß. Er macht sich nur dann bemerkbar, wenn ein triftiger Grund dahinter steckt.

Wir können uns bemitleiden, weil wir Schmerzen haben. Wir können darin versinken. Wir können aber auch dankbar für den Schmerz sein, denn er gibt uns die Chance, etwas zum Positiven zu verändern. Er schärft unsere Wertschätzung für das Leben und erhöht unsere Achtsamkeit.

Schmerzen sind nicht immer so lustig wie in meinem eingangs genannten Beispiel. Sie können grausam sein. Ich verstehe etwas davon. In den dunkelsten Momenten meines Lebens war der seelische Schmerz so groß, dass ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Und genau in diesem Moment begriff ich, dass der Schmerz immer schlimmer wird, weil wir ihn ignorieren. Er treibt uns bis an die Grenze des Wahnsinns, bis wir endlich bereit sind zuzuhören und etwas zu verändern. Genau das tat ich dann endlich, und plötzlich war das Leben wieder lebenswert.

Ich habe also meine Gründe, den Schmerz wie einen guten alten Freund zu betrachten, der an meinem Wohlergehen interessiert ist. Und ich hoffe aufrichtig, diese Perspektive auch an andere weitergeben zu können, damit sie lernen, ihren Schmerz produktiv zu nutzen, anstatt in ihm zu versinken.

Falls du diese Zeilen in einer schwierigen Phase deines Lebens liest, möchte ich dir noch ein kleines Mantra mit auf den Weg geben, das mir sehr hilft, wenn ich starke Schmerzen erleide, egal ob körperlich oder seelisch: Kein Schmerz ist sinnlos. Kein Schmerz währt ewig.

In diesem Sinne: Alles Gute und viel Kraft.

 

Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael

 

Titelbild: Unsplash.com, Road Trip with Raj