Ein paar Zeilen über das Loslassen…

Ich denke, wir alle wurden im Laufe des Lebens das ein oder andere Mal verletzt. Manche von uns mehr, andere weniger. Je tiefer der Schmerz ist, den andere uns zugefügt haben, desto schwieriger ist es, loszulassen. Aus Wunden werden Narben. Und manchmal ist es schwer zu akzeptieren, dass Narben bleiben. Wir lernen, mit ihnen zu leben. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir sie gutheißen. Wer die Vergangenheit nicht loslassen kann, trägt sie mit sich. Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die genau verstehen und fühlen können, was ich damit meine.

Die Persönlichkeitsentwicklung lehrt uns, dass es eine Lösung gibt, um den Schmerz der Vergangenheit loszulassen: Vergebung. Ein schönes Wort, findest du nicht? Neun Buchstaben, die Hoffnung auf Seelenfrieden wecken. Aber leider lässt sich Vergebung nicht annähernd so leicht praktizieren, wie sie sich schreiben lässt.

In den letzten sieben Jahren als Coach und Berater habe ich mit sehr vielen Menschen über Vergebung gesprochen. Die allerwenigsten von ihnen waren gut auf das Thema zu sprechen, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Wenn ich in meine eigene Vergangenheit blicke, sehe ich viel Schmerz, der mir von anderen zugefügt wurde. Zu vergeben und loszulassen, fühlt sich so an, als würde man jene ungestraft davonkommen lassen, denen man tiefe Narben zu verdanken hat. Es fühlt sich ungerecht an. Ungerecht sich selbst gegenüber. Irgendwie falsch. So, als hätte man kein Selbstwertgefühl.

Das ist ziemlich verrückt, wenn man bedenkt, dass wahre Vergebung im Grunde ein Akt von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen ist…

 

Was Vergebung wirklich ist

Um es auf den Punkt zu bringen: Vergebung bedeutet nicht, andere ungestraft davonkommen zu lassen. Vergebung bedeutet, sich selbst zu befreien. Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird das (hoffentlich) mehr Sinn ergeben.

Vergebung heißt, jeden Anspruch auf Rache und Wiedergutmachung fallenzulassen und etwas loszulassen, das es nicht wert ist, festgehalten zu werden. Das machen wir nicht, um soziale Gutmenschen zu sein. Wir tun es auch nicht, um „wahre Größe“ oder sonst irgendetwas zu beweisen. Wir tun es für uns selbst. Wir tun es für unseren Seelenfrieden. Wir vergeben, um unseren Geist von etwas Hässlichem zu befreien, das einen Schatten auf all die guten Dinge unseres Lebens wirft. Wir entziehen der Dunkelheit in uns den Raum und schaffen Platz für das, was uns glücklich macht. Nichts davon bedeutet, jemanden ungeschoren davonkommen zu lassen. Es bedeutet schlicht und einfach, uns selbst zu befreien.

 

Warum Wiedergutmachung nicht funktioniert

So wie viele andere Menschen auch, habe ich lange auf Wiedergutmachung gewartet. Darauf, dass jemand kommt, um sich zu entschuldigen und einfach alles dafür zu tun, dass die Wunden, die uns zugefügt wurden, wieder geheilt werden. Die Realität sieht so aus, dass die allerwenigsten von uns jemals erfahren, wie es sich anfühlt, eine aufrichtige Entschuldigung zu erhalten. Aber selbst wenn: Was ändert diese Entschuldigung? Dem, der sich entschuldigt, erleichtert sie das Gewissen. Aber was bringt dir die Entschuldigung wirklich? Dient sie als Wiedergutmachung?

Und da wir gerade von Wiedergutmachung sprechen: Ist sie überhaupt möglich? Oder ist der Begriff „Wiedergutmachung“ nicht einfach nur ein Phantom, an dem wir festhalten, weil wir insgeheim hoffen, dass alles, was wir erleiden mussten, ungeschehen gemacht werden kann?

Es gibt sicherlich Fälle, in denen Wiedergutmachung funktioniert. Wenn du den letzten Fruchtjoghurt aus meinem Kühlschrank stibitzt hast, wirst du unsere Freundschaft vielleicht retten können, indem du dich aufrichtig entschuldigst und eine erlesene Auswahl meiner Lieblingssorten mitbringst, um den Kühlschrank neu zu befüllen.
Aber was ist mit den ernsten Fällen? Was ist mit den tiefen Wunden, den schwerwiegenden Enttäuschungen, den Vertrauensbrüchen und persönlichen Schäden, die uns angetan wurden? Gibt es hierfür wirklich Wiedergutmachung? Wenn ich ganz ehrlich sein darf: Nein. Es gibt Schadensbegrenzung. Aber da die Zeit sich nur in eine Richtung bewegt, gibt es keine Wiedergutmachung.

Damit möchte ich sagen: Wenn wir auf Wiedergutmachung warten, warten wir auf etwas, das es schlicht und einfach nicht gibt.

Und, falls ich mir erlauben darf, diese persönliche Note hinzuzufügen: Ein starker und selbstbewusster Mensch, der sich selbst respektiert, wartet nicht darauf, dass die, die ihn verletzt haben, sein Leben wieder auf die Reihe bekommen. Er liebt sich selbst genug, um Verantwortung zu übernehmen und seine Wunden selbst zu heilen. DAS ist wahres Selbstbewusstsein. Dieser Weg mag alles andere als leicht sein, aber er lohnt sich.

 

Warum Rache nicht funktioniert

Dann bliebe da noch das Bedürfnis nach Rache. Viele von uns wollen Leid mit Leid vergelten. Jeder von uns weiß, dass das nicht gut ist. Aber jeder von uns kann es auf einer menschlichen Ebene verstehen.

Dazu kann ich dir nur das Folgende sagen: Begib dich nicht auf das Niveau anderer herab. Da unten bist du deutlich weniger erfahren.

Weiterhin tun wir unserem Selbstwertgefühl mit Rache keinen Gefallen. Lass uns den Gedanken kurz beleuchten: Wir verabschauen jemanden für das, was er uns angetan hat. Wenn wir dasselbe tun, werden wir selbst zu dem, was wir verabscheuen. Wir sollten also nicht auf Rache verzichten, um jemand anderen zu verschonen. Wir sollten uns selbst verschonen. Es ist kein schönes Gefühl, in den Spiegel zu schauen und zu wissen, dass man selbst kaum besser ist als die, die wir hinter uns lassen wollen.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den wir nicht unbeachtet lassen sollten: Nichts, was du tun könntest, ist eine schlimmere Strafe als das, was sich jemand selbst antut, wenn er uns schadet.
Zum einen wäre da das Karma. Du kannst es auch Schicksal oder die Fügungen des Universums nennen. Es ist einfach so, dass die Zeit jene bestraft, die nicht gut zu uns sind. Und sie bestraft diese Menschen auf eine Weise, die viel mächtiger ist als alles, was wir als einzelne Menschen ausrichten können.

Weiterhin möchte ich dich an dein Selbstwertgefühl erinnern: Du bist wertvoll. Das heißt, dass du jemanden bereits schwerwiegend bestrafst, indem du ihm deine Liebe, Freundschaft, Zeit und Aufmerksamkeit entziehst.
Es gibt keine Notwendigkeit, noch schwerere Geschütze aufzufahren.

 

Loslassen ist Frieden

Wenn es uns gelingt, auf Wiedergutmachung, Rache und sonstige Ansprüche gegenüber anderen zu verzichten, finden wir Frieden. Wir akzeptieren, dass Dinge geschehen sind, die sich nicht ändern lassen, und wir erkennen, dass sich daraus Lektionen entnehmen lassen, die sehr wertvoll für unseren weiteren Werdegang sein können.

Nichts von all dem, was ich in diesem Beitrag beschreibe, ist leicht. Nur wenig davon ist sympathisch, und mir ist schmerzlich bewusst, dass es mir nicht gut steht, solch düstere und emotional sensible Themen zu behandeln. Aber es ist ehrlich. Und es ist wichtig!

Inzwischen bin ich eine ganze Weile als Autor und Berater tätig. In diesen Jahren habe ich kleine und vergleichsweise harmlose Fälle erlebt, in denen ein einfacher Wechsel der Perspektive dabei half, echte Vergebung zu praktizieren.
Ich habe aber auch Fälle erlebt, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Fälle, in denen selbst ich nur schwer glauben konnte, dass Vergebung noch möglich sein würde. Doch wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und so durfte ich schon viele Male erleben, wie wunderbare, starke Menschen es geschafft haben, sich durch Vergebung selbst zu befreien.

Niemand erwartet von dir, von heute auf morgen loszulassen. Niemand erwartet von dir, zu vergessen, was geschehen ist. Aber vielleicht schaffen wir alle es, nur einen kleinen Schritt in eine glücklichere Richtung zu gehen, indem wir versuchen, zu vergeben. Nicht für andere, sondern für uns selbst. Ich wünsche dir, mir und uns allen viel Kraft und Erfolg dabei.

 

Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael

 

 

Titelbild: Unsplash.com, Aziz Acharki