Keine Chance!

Im Folgenden werde ich dir kurz etwas über drei Personen erzählen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe. Sie alle haben etwas gemeinsam. Mal schauen, ob dir beim ersten Lesen auffällt, was die Gemeinsamkeit ist.

(Ganz am Rande sei angemerkt, dass ich ihre Namen verändere, um ihre Identität zu schützen.)

Vor vielen Jahren lernte ich Thomas kennen, einen nach außen hin lebensfrohen Studenten, der den Spitznamen „Loch“ trug. Warum er diesen seltsamen Spitznamen hatte? Naja, er konnte „saufen wie ein Loch“. Bei seinen Freunden war er berühmt dafür, es bei jeder Gelegenheit so richtig krachen zu lassen. Besonders interessant ist hier jedoch nicht, wie viel er getrunken hat. Viel interessanter ist das Ritual, das er am Morgen nach einer intensiven Nacht pflegte. Das allererste, was er sagte, wenn er jemandem begegnete, war: „Erzähl mir nicht, was ich letzte Nacht angestellt habe.“
Viele hielten das für einen Dauerscherz, einen sogenannten „running gag“, aber es war Thomas ernst. Er wollte nicht mit dem konfrontiert werden, was er im Suff angestellt hatte. Und wenn er es das dann doch auf irgendeine Weise erfuhr, überkam ihn das plötzliche Bedürfnis, erneut zu trinken…

Sophie schaffte es einfach nicht, eine funktionierende Partnerschaft mit einem Mann aufzubauen. Mal sagte sie, alle Männer seien dumm und an anderen Tagen vermutete sie, schlicht und einfach beziehungsunfähig zu sein. Darüber reden wollte sie nicht wirklich. In ihrem Freundeskreis wehrte sie Gesprächsversuche diplomatisch ab, wechselte das Thema oder verließ die Situation. Bei Diskussionen mit Männern, mit denen eine versuchte Beziehung gescheitert war, fuhr sie jedoch einen drastischeren Kurs. Wann immer es zu einer Aussprache mit einem Mann kam, flüchtete sie. Sie verließ einfach die Wohnung und ließ sich nicht mehr blicken. Anschließend blockierte sie den Kontakt ihres Gegenübers auf dem Telefon, sodass er sie nicht mehr anrufen und ihr auch nicht mehr schreiben konnte. In beinahe allen Fällen war dies das endgültige Ende der Bekanntschaft. Keine Aussprache und keine Analyse im Nachhinein. Je schneller eine Bekanntschaft zu Ende ging, desto schneller und verzweifelter suchte Sophie nach einer neuen.

Magda war eine Angestellte von mir, mit der ich mich blendend verstand und heute noch gut befreundet bin. Eines Tages tat sie jedoch etwas Merkwürdiges.
Es gibt einen Vorfall, der mein Leben geprägt hat (und über den ich übrigens ausführlich in meinem Buch „Hat noch jemand Bock die Welt zu retten?“ berichte). Es war der Tag, an dem ich aus beruflichen Gründen einen Tierschlachtbetrieb besuchte und anschließend die persönliche Entscheidung traf, kein Fleisch mehr zu essen. Zu dieser Zeit war Magda meine Angestellte. Am besagten Tag empfing sie mich im Büro, als ich von meinem Ausflug zurückkehrte. Ihr entging nicht, wie schockiert ich war und wie schlecht es mir ging, also fragte sie mich, was passiert war. Als ich anfing, ihr von den Erlebnissen zu erzählen, unterbrach sie mich und rief: „Bitte hör auf! Mein Freund und ich wollen uns heute Abend Brathähnchen kaufen und ich will nicht an so etwas Grausames denken, wenn ich die esse.“
Am nächsten Morgen erzählte sie mir: „Gestern, als ich das Hähnchen gegessen habe, hätte ich fast an deine Geschichte denken müssen. Dann konnte ich mich aber zum Glück mit etwas anderem ablenken und es hat wieder alles gut geschmeckt.“

Was haben diese Geschichten gemeinsam?

Ist dir bereits aufgefallen, was die Personen in diesen drei Anekdoten verbindet?

In allen drei Fällen versucht jemand, die Wahrheit und Verantwortung von sich zu schieben und das mithilfe von noch mehr Verdrängung zu gewährleisten.

Das ist etwas völlig Normales, das wir alle hin und wieder machen. Immer dann, wenn wir nicht mit den Konsequenzen unseres Handelns oder gewissen Tatsachen konfrontiert werden wollen, verschließen wir die Augen und begeben uns in einen Zustand der Verdrängung. Das erinnert mich daran, dass ich in Phasen, in denen ich zu viel esse und genieße, nur ungerne nackt vor dem Spiegel stehe. Oder daran, wie ich damals fast ein halbes Jahr lang abstritt, dass ich Depressionen und Angststörungen hatte. Völlig verständlich, oder? Aber dadurch nicht weniger schädlich.

Es ist offensichtlich, dass wir mit dieser Verhaltensweise in den meisten Fällen anderen schaden. Den meisten Schaden bringen wir uns damit jedoch selbst. Indem wir vor Verantwortung, Konsequenzen und unangenehmen Tatsachen fliehen, begeben wir uns in eine Negativspirale, der wir durch mehr Negativität zu entkommen versuchen. Und das vergeblich. Denn innere Konflikte werden nicht gelöst, indem wir ihnen Aufmerksamkeit entziehen. Auf diese Weise geben wir ihnen eher Freiraum, sodass sie uns noch stärker beeinflussen können.

So ist es doch klar, dass Thomas stets eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog und seinen gesunden Körper zerstörte. Der Weg aus diesem Teufelskreis lag nicht darin, noch ignoranter zu sein. Er lag darin, sich der Wahrheit und den Konsequenzen seines Handelns zu stellen, was Thomas schließlich auch irgendwann tat. Vor nicht allzu langer Zeit, als ich mit ihm über alte Zeiten sprach, sagte er zu mir: „Das Loch gibt es nicht mehr. Ich bin jetzt ganz.“

Natürlich konnte Sophie ihre „Beziehungsunfähigkeit“ nicht überwinden, indem sie nie auf die Bedürfnisse ihres jeweiligen Partners einging. Also musste sie irgendwann aufhören, jeden kleinsten Anflug von Kritik im Keim zu ersticken und ihre Ohren sowie ihr Herz für die Anregungen anderer öffnen. Dabei erfuhr sie vieles, das sie verletzte, aber sie bekam auch die Chance, an ihren Schwächen zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln. Heute ist sie glücklich verheiratet.

Für Magda war es keine Option, ewig vor ihren unterschwelligen moralischen Bedenken zu fliehen, denn sie kamen ohnehin immer wieder durch. Also setzte sie sich intensiv mit der Frage auseinander, woher das Fleisch, das sie regelmäßig verzehrte, überhaupt kam. Anschließend entschied sie sich für einen Kompromiss, mit dem sie bis heute sehr gut leben kann: Seltener Fleisch, dafür jedoch vom regionalen Erzeuger, der eine „artgerechte Haltung“ und saubere Produktion anbietet.

Weil wir nicht schnell genug sind

Es bringt nichts, vor unangenehmen Wahrheiten und Verantwortung wegzulaufen, weil wir ohnehin nicht schnell genug sind 😉 Das, wovor wir uns fürchten, holt uns ohnehin immer wieder ein. Und weißt du auch, warum? Weil es nicht hinter uns herläuft, sondern direkt in unserem Kopf lebt. Wir können nicht vor dem fliehen, was bereits in uns stattfindet. Deshalb ist der einzige Weg aus der Angst heraus, ihr mitten ins Gesicht zu blicken.

Dabei finden wir heraus, WARUM wir vermeiden und verdrängen. Wir finden heraus, WAS wir wirklich wollen und auf welche Art und Weise wir am glücklichsten werden.

Aus all diesen Gründen möchte ich dir mit diesem Blogartikel sagen. Es ist egal, wovor du wegläufst, hör einfach auf zu laufen. Sieh der Wahrheit ins Gesicht, auch wenn es wehtut. Es lohnt sich. Das kann ich dir mit absoluter Überzeugtheit sagen, weil ich genau weiß, dass ich heute nicht hier wäre, wenn ich nicht aufgehört hätte, die Wahrheit zu verdrängen. Bestärkt werde ich durch interessante Geschichten und Erlebnisse wie die von Thomas, Sophie und Magda. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder von uns versucht, das ein oder andere Stückchen Verantwortung zu umgehen, das eigentlich nur ein kleines Bisschen Aufmerksamkeit braucht.

Hab keine Angst. Du kannst nur gewinnen.

Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael

 

Titelbild: Unsplash.com, © Lucas Favre