Ein Gedanke, den man mal unter die Lupe nehmen sollte…

Im Jahr 2012, als ich noch Taxifahrer war, bekam ich den Auftrag, einen katholischen Würdenträger aus Nigeria am Flughafen abzuholen und ihn zu einem Kloster zu bringen. Als ich den Mann am Flughafen traf, war ich schwer beeindruckt von seiner Präsenz und Ausstrahlung. Es war ein denkwürdiger Moment für mich, den ich so schnell nicht vergessen werde. An seinem körperlichen Erscheinungsbild gab es nichts, das beeindruckend gewesen wäre. Der Mann war mindestens 60 Jahre alt, mindestens einen Kopf kleiner als ich und lief mit einer Gehhilfe. Doch er strahlte nichts als Freundlichkeit und Ruhe aus. Er hatte ein unglaublich warmes Lächeln und einen zutiefst gütigen Ausdruck in seinen Augen. Ich glaube, das ist der väterliche oder eher großväterliche Ausdruck, den wir uns alle vom Weihnachtsmann wünschen würden. Er gab mir einen festen Händedruck und versicherte mir in einwandfreiem Englisch, es sei ihm eine große Freude mich kennenzulernen. Zudem bedankte er sich dafür, dass ich mir die Zeit nahm, ihn abzuholen und sicher an sein Ziel zu bringen.

Vor uns lag eine fast zweistündige Autofahrt, also unterhielten wir uns im Auto darüber, woher wir kommen und was uns auf diesen Pfad des Lebens gebracht hat. Er erzählte mir, sein Ziel sei es, den Menschen zu zeigen, dass wir alle im selben Boot sitzen und keinen Grund haben, uns aufgrund unserer Hautfarbe, Herkunft oder Religion zu bekämpfen.
Ich sagte: „Ich finde es toll, dass Sie das machen, aber ist es nicht furchtbar, dass Sie sich überhaupt darum kümmern müssen? Ist es nicht offensichtlich, dass wir alle im selben Boot sitzen und dass es verrückt ist, einander zu hassen?“

Er sah mich neugierig an und fragte mich, was ich damit meinte. Also sagte ich: „Ich hasse niemanden dafür, dass er eine andere Haarfarbe hat als ich. Also wieso sollte ich jemanden hassen, weil er eine andere Hautfarbe hat? Ich hasse niemanden dafür, dass er im Haus nebenan wohnt. Also wieso sollte ich jemanden hassen, weil er im Land nebenan oder auf dem nächsten Kontinent wohnt? Ich hasse niemanden, weil er mein Lieblingsbuch nicht mag. Also wieso sollte ich jemanden hassen, weil er an einen anderen Gott glaubt? Ich hasse niemanden, weil er mein Lieblingsessen nicht mag. Also wieso sollte ich jemanden hassen, weil er auf ein anderes Geschlecht steht als ich? Das macht alles keinen Sinn. Leben und leben lassen. Ich will ja auch so sein können wie ich bin.“

Der Mann fing an zu lachen. Er hatte ein lautes, schallendes Lachen und klatschte dabei aufgeregt in die Hände. Er sagte, und daran erinnere ich mich sehr genau: „How easy could life be, if everyone saw the world through your eyes?“ Zu Deutsch: „Wie einfach könnte das Leben sein, wenn jeder die Welt durch deine Augen sehen würde?“

Später, nachdem wir uns noch ein wenig unterhalten hatten, wurde er ernst und sagte zu mir: „Du hast verstanden, was wahre Toleranz ist. Ich freue mich für dich. Aber weil du das verstehst, wirst du in dieser Welt immer leiden.“

Sprung in die Gegenwart

Dieser Tage geht es sehr viel um Toleranz. Wirklich sehr, sehr viel. Und obwohl ich vor wenigen Jahren noch dachte, das sei eine positive Entwicklung, blicke ich heute mit Sturnrinzeln auf die „Radikalisierung“ der Toleranz, die um uns herum geschieht.

Wir müssen zum Beispiel aufpassen, dass wir stets richtig „gendern“. Soll heißen: Wenn ich sage: „All meine Leser sind meine Freunde“, bin ich bereits politisch inkorrekt, ein Frauenfeind und leugne, dass es „diverse“ Geschlechter gibt. Denn ich spreche nur von meinen Lesern, statt meinen Leserinnen und Diversen. Zudem empfinde ich sie als Freunde, nicht als Freundinnen. Und während ich in dieses politische Fettnäpfchen trete, schließe ich auch noch alle geschlechtlich „diversen“ Mitmenschen aus.

In der Welt der neuen Toleranz bedeutet das einfach gesagt: Während ich sagen möchte, dass ich euch alle lieb habe, weil ihr meinen Blog lest, diskriminiere ich ein paar tausend Menschen und missachte ihr Geschlecht, weil ich versuche, meine Ausdrucksweise und die verwendete Sprache so simpel und allgemein wie möglich zu halten. Verrückt, oder?

In den letzten Monaten habe ich mindestens ein Dutzend feindseliger E-Mails bekommen, in denen man mir genau das vorwirft. In meinen Blogartikeln spreche ich oft von meinen „Lesern“ oder „Fans“, anstatt „Leser:innen“ oder „Fan:innen“ zu schreiben. Übrigens erfahre ich keinerlei Toleranz für diese angebliche Art der Intoleranz. Letzteres bringt einen ziemlich ins Grübeln.

Intoleranz für Intoleranz???

Denkt bitte nicht, ich würde mir Kritik nicht zu Herzen nehmen. Aber irgendwie fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass es da draußen weibliche Leserinnen gibt, die entsetzt vom Stuhl fallen oder sich von mir ausgeschlossen fühlen, weil ich das Wort „Leser“ verwende. Oder irre ich mich da? Bin ich vielleicht zu altmodisch?

Ich hatte schon immer eine soziale Ader. Seit ich mich zurückerinnern kann, war das Gerechtigkeitsbedürfnis ein großer Teil meines Lebens und Denkens. Ich habe mich schon oft für Feminismus stark gemacht und mich das ein oder andere Mal unbeliebt gemacht, weil ich inmitten von konservativen Männerndomänen gesagt habe, dass es dämlich ist, Frauen in einer Gesellschaft zu benachteiligen. Darüber hinaus freut es mich, dass wir als Gesellschaft versuchen, mehr Rücksicht aufeinander zu nehmen und Minderheiten zu schützen. Aber mit dieser neuen Überempfindlichkeit kann ich leider nicht viel anfangen. Ich finde diese Überempfindlichkeit unangebracht, weil es für uns selbstverständlich sein sollte, tolerant zu sein. Toleranz ist kein Merkmal, das ich mir auf die Stirn schreiben muss, weil es bereits einen festen Platz in meinem Herzen hat.

Neulich führte ich ein Coaching-Erstgespräch mit einer Dame, die mir zu Beginn des Gesprächs – ohne irgendeinen ersichtlichen Grund – sagte: „Ich muss dich vorwarnen, Michael. Meine größte Stärke ist die Toleranz. Ich bin lesbisch und toleriere alle Menschen so, wie sie sind. Wenn du ein Problem damit hast, bist du leider bei mir unten durch.“
Das hat mich fast aus den Socken gehauen. Also fragte ich: „Deine größte Stärke ist die Toleranz, und deswegen könntest du es nicht tolerieren, wenn jemand anderer Meinung wäre als du?“
Wie du dir denken kannst, war das Gespräch schnell vorbei. Was ich da erlebt habe, war keine Toleranz, sondern Unsicherheiten, Selbstzweifel und Selbstschutz. Das ist ja auch völlig in Ordnung. Jeder möchte sich schützen. Aber unter dem Deckmantel der „Toleranz“ seine persönliche Meinung und Einstellung als einzig richtige darzustellen – und das, obwohl diese überhaupt nicht in Frage gestellt wurde – ist keine Toleranz. Ich weiß nicht genau, was es sonst ist, aber definitiv keine Toleranz.

Wir leben in Zeiten einer neuen Toleranz. Wer dabei nicht ganz genau aufpasst, was er sagt, erfährt große Intoleranz. Meinen wir das als Gesellschaft eigentlich ernst oder ist das Satire?

Wie echte Toleranz aussieht

Für mich sieht Toleranz ganz einfach aus: Leben und leben lassen, solange wir einander nicht schaden.

Ich habe es auf diesem Blog schon oft geschrieben und ich schreibe es sehr gerne erneut:

Es ist mir egal, woher du kommst, welche Hautfarbe du hast, an welchen Gott du glaubst (oder an welche Gött:innen 😉 ), oder welche Pizzasorte du am liebsten magst. Solange wir einander respektvoll begegnen, können wir Freunde sein. So einfach ist das.

Die Grundvoraussetzungen sind also immer gegenseitiger Respekt und das Versprechen, einander nicht zu schaden. Was respektlos ist und womit man anderen schadet, ist anscheinend Ansichtssache.

Von meiner Seite aus kann ich euch versichern, dass ich niemanden respektlos behandeln oder verletzten möchte, indem ich euch als meine „Leser“ anschreibe. Ich bin Autor. Ich liebe die deutsche Sprache und meine Aufgabe ist es, jedem meiner Sätze eine Melodie zu verleihen. Würde ich meine Sätze durch den grammatischen Fleischwolf drehen, um bloß niemanden auszugrenzen, würde das sicherlich auch niemandem gefallen…

Leben und leben lassen. Nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Sich nicht immer allzu ernst nehmen. Nicht vom anderen erwarten, dass er alles perfekt macht. Gemeinsamkeiten feiern und Differenzen respektieren. Das ist echte Toleranz.

„Ich sage dir, was du sagen und denken sollst, sonst wirst du zur Randfigur der Gesellschaft!“, ist kein Toleranz. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass uns diese Einstellung nicht zu einer besseren Gesellschaft macht…

In diesem Sinne: Ich habe euch alle gern, weil ihr meinen Blog lest und diesen Weg gemeinsam mit mir geht. Ich habe euch auch dann noch gern, wenn wir nicht immer derselben Meinung sind und nicht jeder meiner Beiträge allen zu 100 Prozent aus der Seele spricht. Und ganz bestimmt habe ich euch alle gern, auch wenn ich manchmal „nur“ von meinen „Lesern“ spreche. Versprochen!

Lassen wir uns nicht verrückt machen. Das Leben ist zu kurz, um sich wegen Haarspaltereien die Schädel zu spalten. Genießen wir unsere Zeit. Gemeinsam, respektvoll und friedlich.

Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael

 

Titelbild: Unsplash.com, Andrew Moca