Gehörst du etwa auch zu den Sündern?!

Ich kann unmöglich der einzige sein, der merkt, dass die Welt und unsere Gesellschaft in einem extremen Wandel sind. Es gibt so vieles, das sich verändert. So viele scheinbar negative Entwicklungen. Gleichzeitig ist die Spaltung der Gesellschaft so massiv wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Wir sind so aufgeheizt. So feindselig. Da sind so viele Bereiche, in denen wir uns uneinig sind und getrennte Wege gehen. Es ist einfach unglaublich.

Im Zuge dessen sticht für mich eine bestimmte Entwicklung ganz besonders heraus. Auf diese möchte ich im Folgenden näher eingehen.

Ich erinnere mich an eine gute alte Zeit, in der wir miteinander diskutiert haben. Eine Zeit, in der wir uns über unsere Meinungen ausgetauscht haben und einander die Chance gaben, überzeugende Argumente zu äußern. Es gab tatsächlich mal diese Zeit, in der man Freude daran hatte, unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven durchzuspielen, um seinen Horizont zu erweitern. Heute ist das überwiegend anders.

Heute hast du eine Meinung. Entweder ist sie die richtige oder du bist weg vom Fenster. Klingt überspitzt? Finde ich auch. Ist aber nicht annähernd so überspitzt wie die Tatsache, dass wir Menschen dafür diskriminieren, eine eigene Meinung und eigene Wertvorstellungen zu haben.

Und tschüss!

Hier kommt eine kleine Anekdote über das Schicksal, oder Karma, oder wie auch immer wir das nennen mögen: Vor wenigen Monaten sah ich auf Instagram einen Beitrag des amerikanischen Motivationsredners Gary Vaynerchuk. Er sprach über irgendein kontroverses Thema, zu dem er eine ganz spezielle Meinung hatte. Es war jedoch eine harmlose Angelegenheit. Wenn ich mich recht entsinne, ging es um die Fehler des Schulsystems. Jedenfalls stach mir dabei ein Kommentar unter dem Video ins Auge. Eine Frau schrieb (aus dem Englischen übersetzt): „Gary, ich folge dir nun schon seit Jahren. Du warst immer ein Teil meines Lebens und hast mich täglich motiviert. Ich habe jedes deiner Bücher gelesen und viele deiner Vorträge gehört. Aber heute hast du eine ganz andere Meinung als ich und das finde ich nicht in Ordnung. Ich werde dir nicht mehr folgen. Tschüss!“

Dieser Kommentar an sich ließ mich bereits reichlich staunen. Es gab daran jedoch noch etwas, das NOCH beeindruckender war! Dieser Kommentar hatte mehr als 2.000 Likes erhalten. Das heißt, dass über 2.000 Menschen dieser Dame ihren Zuspruch bekundet hatten.

Ich erinnere mich sehr gut an diese Sache, und gleich wird dir auch klar werden, warum ich dir ausgerechnet diese Geschichte erzähle. An diesem Tag schickte ich besagten Beitrag an einen Freund und rief ihn an. Ich lachte und sagte: „Sieh dir das mal an. Es ist ja geradezu so, als wäre es eine Straftat, nicht immer derselben Meinung zu sein. Was stimmt denn nicht mit den Leuten? Wie kann man wegen einer harmlosen Meinungsverschiedenheit Abstand von einem Menschen nehmen, zu dem man jahrelang aufgeschaut hat?“

Genau einen (!) Tag später bekam ich eine E-Mail von einer Leserin, die fast exakt denselben Wortlaut hatte wie der eben genannte Kommentar. Sie hatte einen Blogartikel von mir gelesen, war mit meiner Meinung nicht einverstanden und nahm Abschied, nachdem sie jahrelang treue Leserin gewesen war. Nenn mich verrückt, intolerant oder unempathisch, aber es fällt mir schwer, so etwas nachzuvollziehen.

Was hat sich verändert?

Da wären wir dann auch schon beim Kern der Sache: In der heutigen Zeit haben wir eine ganz andere Art der Kommunikation und des Meinungsaustauschs. Unsere Aufmerksamkeitsspannen sind extrem begrenzt. Wir beschäftigen uns kaum noch miteinander und wir können einander so schnell ersetzen, dass wir uns gar nicht erst die Mühe geben, an einer sozialen Bindung zu arbeiten. Darüber sprachen wir ja erst im letzten Blogartikel ganz ausführlich (Falls du ihn nicht gelesen hast, kannst du einfach hier klicken).

Heutzutage „blockieren“ wir andere, weil wir uns nicht mit ihnen und ihrer Meinung auseinandersetzen wollen. Was wäre es vor 20 Jahren für ein Unding gewesen, jemanden einfach zu ignorieren und ihm nicht einmal die Chance zu geben, seine Meinung zu äußern?

Neulich erst erfuhr ich von dem Trendbegriff „Ghosting“. Das ist ein plötzlicher und kompletter Kontaktabbruch ohne Vorankündigung. Verschiedenen Quellen zufolge sollen rund 20% aller Deutschen dies in letzter Zeit erlebt haben. Das hat mich komplett aus den Socken gehauen. Du kannst es dir so vorstellen: Du gehst mit jemandem zu einem ersten Date, aber das Treffen hat der Person nicht gefallen. Anstatt dir zu sagen, dass es leider nicht gefunkt hat, entscheidet die zweite Person sich dazu, dich komplett zu ignorieren und zu blockieren. Du hast keine Möglichkeit, nach den Gründen zu fragen oder dein Gegenüber zur Rede zu stellen, weil deine Gefühle verletzt wurden. Wenn du dich dagegen wehrst, wirst du als „Stalker“ abgestempelt. Verrückt, oder? Bis vor Kurzem war mir nicht bewusst, wie viele (vor allem jüngere) Menschen darunter leiden. In meinen Augen ist es ein Selbstverständnis, jemandem zu erklären, warum man keinen Kontakt haben möchte.

Nenn mich altmodisch oder konservativ, aber ich vermisse den Dialog. Ich vermisse intellektuell herausfordernde Unterhaltungen, bei denen man etwas dazulernt. Heute hast du entweder die richtige oder die falsche Meinung. Dazwischen ist nicht viel Platz.

Meiner Meinung nach hat sich das auch ganz gut in der Pandemie mit dem großen „C“ herauskristallisiert. Du bist entweder ein Schwurbler und Verschwörungstheoretiker oder ein naiver Gutbürger und ein schlafendes Schaf. Auf diese respektlose Weise sind wir als Gesellschaft einander begegnet. Wir sind viel zu selten (oder eher gar nicht) aufeinander zugegangen, um einander unsere Sorgen, Zweifel und Gedanken zu erklären. Wir haben uns einfach als emotional unreife und kommunikativ wenig talentierte Gesellschaft blamiert.

Der „Schrecken“ der Individualität

Es ist nichts Neues, dass Leute ausgegrenzt werden, wenn sie nicht „normal“ sind oder nicht dem Mainstream angehören. Eine sehr extreme Meinung von mir war schon immer, dass Leute sich in die Normalität flüchten, um nicht viel über sich und das Leben nachdenken zu müssen. Das meine ich gar nicht böse, aber es trifft leider oft zu. Im Schutz der Normalität und des Mainstreams finden wir Führung. Wir finden Akzeptanz und Zuspruch, ohne etwas tun zu müssen. Wir werden einfach akzeptiert, weil wir „dabei“ sind und die Normalität fördern. Deshalb funktioniert auch das Hamsterrad des Alltags so gut.

In meinem Herzen gab es schon immer einen besonderen Platz für Individualisten. Für die Künstler, die Musiker, die Exzentriker, für die angeblich „Schwachen“, die Hochsensiblen, usw.
Man kann nur verstehen, wie viel Mut es braucht, um einzigartig zu sein, wenn man selbst mal nicht „normal“ war und nicht „dazugehört“ hat.

Und deshalb habe ich heute besonders großen Respekt vor Menschen, die ihre eigene Meinung haben. Es muss nicht meine Meinung sein. Ich respektiere auch jene, die andere Ansichten haben als ich. Das, wovor ich Respekt habe, ist die Unabhängigkeit. Das Hinterfragen. Die Individualität. Der Mut, außerhalb gesellschaftlicher Schubladen zu denken.

Dabei gibt es immer eine klare Grenze: Wir dürfen anderen nicht schaden. Das ist in so vielen Dingen des Lebens die Grenze und wir sollten sie auch hier ziehen. Aber warum müssen wir Menschen blockieren, „ghosten“ oder ihnen die Freundschaft kündigen, weil sie in einer bestimmten Sache anders denken als wir, ohne dabei irgendjemandem zu schaden?

Wir tun niemandem einen Gefallen damit. Wenn wir andere Meinungen permanent abblocken, entwickeln wir eine sehr einseitige Geisteshaltung. Wir drängen uns in eine mentale Isolation, in der nur unser Weltbild existiert, und kein anderes. So viel kann ich dir verraten: Einen umfangreich entwickelten Geist erlangt man so nicht.

Hab den Mut, du zu sein

Jeden, wirklich JEDEN Tag kommuniziere ich durch meine Tätigkeit als Berater und Autor mit Menschen, die eine Meinung haben, aber sich nicht trauen, diese zu äußern. Sie haben Angst davor, abgelehnt zu werden. Sie wollen niemanden erzürnen. Sie wollen ihre Freunde nicht verlieren. Was sagt das über uns aus? Es sagt über uns aus, dass wir eine eigene Meinung schon längst als gesellschaftliche Todsünde akzeptiert haben. Meine Güte, ist das ein Schwachsinn.

Unsere Gesellschaft wird durch Dialoge belebt. Es ist ein besonderes Qualitätsmerkmal des Menschen, Dinge aus mehr als einer Perspektive sehen zu können. Doch jetzt bricht eine Zeit an, in der man EINE Meinung haben muss, damit man nicht zur Randfigur der Gesellschaft gemacht wird. Falls dir das bisher noch nicht so bewusst war, dann schau dir mal die Abendnachrichten an und versuche, so objektiv wie möglich zu sein. Du wirst sicherlich überrascht sein 😉

Auch die Meinung, die ich mit diesem Blogartikel vertrete, wird vielen nicht gefallen und sauer aufstoßen. Genauso werde ich vielen damit aus der Seele sprechen. Das ist völlig in Ordnung. Jetzt kann sich jeder aussuchen, ob er meine Zeilen liest und versucht, meine Denkweise zu verstehen, oder ob er sein Smartphone (oder den Computer) aus dem Fenster wirft und sich schwört, nie wieder etwas von Michael Leister zu lesen. Aber das hier ist MEINE Meinung und ich will keine Angst davor haben, sie zu äußern.

Was soll ich sagen… Ich ghoste nicht. Ich laufe nicht vor dem Gegenwind anderer weg. Im Gegenteil. Meinen Respekt verdient man sich erst, indem man mir zeigt, dass man sich mit mir und meiner Persönlichkeit auseinandersetzt.

Allen Gleichgesinnten da draußen möchte ich sagen: Schäme dich nicht für deine Meinung. Kenne die Grenze. Solange du niemandem schadest, darfst du von allem überzeugt sein, was immer du magst.
Lasst uns nicht vor potenziellem Gegenwind davonlaufen. Lasst uns respektvoll miteinander umgehen. Lasst uns einander neue Perspektiven zeigen, damit wir voneiander lernen und wieder zusammenfinden.

Von einer Sache bin ich fest überzeugt: Was wir aktuell als Gesellschaft betreiben, führt nicht zu einem fruchtbaren Miteinander. Wenn wir diese Welt GEMEINSAM bewohnen wollen, müssen wir uns miteinander beschäftigen. Und bei aktuell 8 Milliarden Menschen auf der Welt wäre es töricht zu erwarten, dass wirklich jeder und jede dieselbe Meinung teilt.

Es interessiert mich nicht, woher du kommst, welche Hautfarbe du hast und an welchen Gott du glaubst. Solange du und ich respektvoll miteinander umgehen und einen höflichen Dialog pflegen, können wir Freunde sein.

In diesem Sinne: Es ist schön, dass es dich gibt und es ist schön, dass du eine eigene Meinung hast.

Und natürlich ist es schön, dass du dabei bist 🙂
Michael

 

Titelbild: Unsplash.com, Jamie Haughton