Segen und Fluch zugleich…
Es gibt vermutlich keinen einzigen Menschen auf der Welt, der sich vollkommen oder perfekt fühlt. Und das ist auch gut so. Potenzial in sich zu sehen, ist völlig normal. Es kann der Ansporn zu großartigen Weiterentwicklungen sein. Es kann aber auch der Auslöser tiefer Selbstzweifel und einer mentalen Negativspirale sein. Unvollkommenheit und das Streben nach Verbesserung bewegen Menschen bereits, seit sie denken können.
In der Persönlichkeitsentwicklung geht es um eine gesunde Weiterentwicklung. Wir lernen mehr über unser Potenzial und suchen uns aus, welche positiven Veränderungen wir erwirken wollen, ohne uns dabei zu überfordern. So zumindest die Theorie. In der Praxis machen wir uns oft sehr viel Druck und sind frustriert, wenn wir nicht in Windeseile so „perfekt“ werden, wie wir es gerne hätten. Dabei vergessen wir, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Es gibt Eigenschaften und Fähigkeiten, die wertvoll und wunderbar sind, aber das Leben nicht immer erleichtern.
Das Verrückte dabei ist: Wer sie hat, wünscht sich oft, es wäre anders. Wer sie nicht hat, wünscht sich ebenfalls, es wäre anders.
Heute geht es um eine ganz besondere Fähigkeit, auf die genau das zutrifft. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Ohne sie fühlt man sich unvollständig. Mit ihr fühlt man sich überfordert. Sie ist unverzichtbar, und doch würde man oft gerne auf sie verzichten. Die große Herausforderung liegt also nicht nur darin, diese Fähigkeit zu erlangen, sondern vor allem, sie zu meistern!
Sensibilität
Die meisten Menschen halten Sensibilität für eine Schwäche. Sie assoziieren sie mit Verletzlichkeit und emotionaler Instabilität. Dass ich das anders sehe, ist kein Geheimnis. In vielen meiner Veröffentlichungen gehe ich darauf ein, dass Sensibilität wunderbar und wertvoll ist. Sie ist der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis unserer Welt und Mitmenschen.
Nur zum besseren Verständnis: Unter „Sensibilität“ verstehen wir eine hohe Empfindsamkeit. Die meisten denken dabei sofort an emotionale Empfindlichkeit. Das ist zwar auch richtig, aber längst nicht alles, was Sensibilität umfasst. Es gibt zum Beispiel auch die physische Sensibilität. Diese ermöglicht eine deutlich feinfühligere Wahrnehmung körperlicher Reize, wie zum Beispiel Berührungen, Temperaturen oder auch Schmerzen. Ebenfalls interessant ist die sensorische Sensibilität, die sich auf Sinneseindrücke bezieht. Sensorisch sensible Menschen reagieren empfindlicher auf Licht, Gerüche, Geschmäcker und Geräusche. Dann wäre da noch die kognitive Sensibilität, die sich mit der Intelligenz vergleichen lässt. Sie ist die Fähigkeit, komplexe Gedanken und Ideen zu verarbeiten.
Auf den ersten Blick sehen all diese Eigenschaften wie Schwächen aus. Empfindsamkeit klingt nach Verletzlichkeit. Schmerzen und Gefühle intensiver zu erfahren als andere, ist keine verlockende Aussicht. Eine oft laute und anstregende Welt deutlicher wahrzunehmen als andere, wirkt nicht sehr friedlich, und tiefer grübeln zu können als jeder, den man kennt, verspricht Kopfschmerzen.
Was passiert, wenn wir unsere Sensibilität verlieren
All diese „Nachteile“ der Sensibilität klingen anstrengend. Doch in meinen Ohren sind sie Musik. Ich finde sie wunderbar. Sie schüchtern mich kein bisschen ein, und es mir wichtig, dir zu erklären, warum das so ist.
Viele wissen, dass es eine Phase in meinem Leben gab, in der ich schwerst depressiv war. Ich war so müde vom Leben, dass jeder neue Tag ein Kraftakt war. Jeder, der im Laufe seines Lebens auch nur annähernd an diesem Punkt war, kann nachvollziehen, wie dunkel diese Phasen sind. Doch das Bemerkenswerte daran ist, dass ich mich nicht an Schmerz und Leid erinnere. Schmerz und Leid sind nur das, was einen an diesen Punkt führt. Das, was danach kommt, ist Taubheit.
Ich erinnere mich daran, dass mein Körper sich monatelang taub anfühlte. Ich konnte mir im wahrsten Sinne über die Arme kratzen und fühlte dabei gar nichts. Meine Beine fühlten sich oft wie Sprungfedern an. Es ist schwer zu beschreiben, aber es war so, als hätte ich keine Beine mehr. Jedes Essen schmeckte gleich. Nichts war lustig. Nichts war wichtig. Mit der Zeit wurde einfach alles gleichgültig und taub. Es war, als wäre ich eine leere Hülle, die nicht mehr lebte, sondern nur noch existierte.
Viele Menschen, denen es so geht, verletzen sich selbst, nur um wieder etwas fühlen zu können. Fälschlicherweise bezeichnet man das oft als „Borderline-Syndrom“. Tatsächlich jedoch handelt es sich hierbei um „Selbstverletzendes Verhalten“, welches häufig eine Folge von Depressionen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder auch der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist.
Du siehst: Empfindsamkeit ist so wichtig, dass Menschen, die sie verlieren, sich sogar selbst verletzen, nur um für kurze Zeit wieder etwas fühlen zu können. Egal, was!
In meinen Coachings weise ich auf diese Tatsachen hin, wenn sich jemand über seine Sensibilität beschwert. Ich kann die Nachteile der Sensibilität nachempfinden, aber ich kann dir versichern, dass das Leben deutlich schwieriger wird, wenn man gar nichts mehr empfindet.
Wo Schmerz ist, ist auch Potenzial
Für jemanden, der das Tal der Taubheit und inneren Leere hinter sich gelassen hat, ist Empfindsamkeit zwar gewöhnungsbedürftig, aber vor allem fantastisch. Man hat das Gefühl, wieder im Leben angekommen zu sein. Man empfindet wieder, spürt das Leben mit allen Sinnen, und erkennt Wunder um sich herum, von denen man vorher keine Ahnung hatte.
Die meisten sensiblen Menschen beschweren sich über ihre Sensibilität. Aber überleg doch mal, wie viel Potenzial in dieser speziellen Empfindsamkeit steckt:
- Wer Emotionen stärker spürt als andere, kann auf eine Weise lieben und Freude empfinden, die andere nie verstehen werden.
- Wer Berührungen und körperliche Reize stärker spürt, kann ganz neue Höhen der Initmität und Nähe empfinden.
- Wer stärkere Sinneseindrücke empfängt, erlebt seine Umwelt und das ganze Leben deutlich intensiver.
- Eine erweiterte Wahrnehmung und Intelligenz eröffnen intellektuelles Potenzial, das ein simpel gestrickter Geist niemals erreichen kann.
Alles eine Frage der Perspektive, nicht wahr? Wer aus dem Vollen schöpfen und das Leben wirklich spüren will, in all seinen zahlreichen Facetten, kommt an Sensibilität nicht vorbei.
Fairerweise muss ich jedoch hinzufügen, dass es definitiv zu viel des Guten geben kann. Meine Arbeit mit Hochsensiblen hat mir diesbezüglich ziemlich die Augen geöffnet. Wie immer geht es also darum, eine individuelle Balance zu finden.
Es gibt kein „richtiges“ Maß
Nachdem du diese Zeilen gelesen hast, ergibt der Titel dieses Blogartikels hoffentlich mehr Sinn: „Die Fähigkeit, die jeder braucht, keiner will, viele sich wünschen, und niemand auf Dauer aushält.“
Soll heißen:
- Jeder braucht Sensibilität für ein erfülltes Leben.
- Keiner will schwach sein.
- Wer versteht, dass Sensibilität keine Schwäche ist, will mehr von ihr.
- Wer zu viel von ihr hat, sucht nach Entschleunigung.
Verrückt, oder? Ich glaube, die Suche nach der individuellen Balance ist eine Lebensaufgabe, bei der es niemals ein „richtiges“ Maß und keine endgültigen Resultate gibt. Die ideale Balance ist im Wandel, so wie wir selbst.
Das lasse ich einfach mal so im Raum stehen, vor allem für all jene unter uns, die unter ihrer Sensibilität leiden. In der Hoffnung, die ein oder andere Perspektive eröffnet zu haben, verabschiede ich mich für heute.
Es ist schön, dass du dabei bist.
Michael
Titelbild: Unsplash.com, Andreas Haslinger
Danke:)
ich hab diese Hochsensibilität lange gehasst.
Auch , weil von Außen oft darauf hingewiesen wurde.
Inzwischen bin ich sogar dankbar dafür.
Gewisse Spannungen kann ich umgehen. Und mit anderen lernt man besser umgehen. Wer mehr empfindet, empfindet auch das Schöne mehr :))
Lieber Michael,
Vielleicht sind nahezu alle deiner Leser besonders sensibel. Ich denke, sonst würden wir nicht deine Blogs und
Bücher lesen..
In meinem bereits fortgeschrittenen Alter habe ich nun eine Lebensart entwickelt in der ich meine Sensibilität genieße. Alles was mich nachhaltig belastet, stelle ich ab. Dadurch habe ich Kraftpotential für die
schönen Dinge des Lebens .
Liebe Grüße
Elke T
Lieber Michael, vielen Dank für diesen tollen Artikel. In jungen Jahren hat es mich immer belastet, dass ich so „empfindlich“ bin, heute, mit 55 sehe ich auch das Positive, das Sensibelsein mit sich bringt. Für mich und im Umgang mit anderen, auch mit denen, die nicht sensibel sind. Erstmal erkennen, dass es so ist, das hat auch gedauert. Ich freue mich auf weitere Artikel von Dir und auf Deine neuen Bücher. Herzliche Grüße Sabine
Ja, Sensibilität ist wichtig um jeder hat sie, nur der eine mehr und der anderen weniger.
Es gibt kein richtiges Maß dafür. Man kann Sensibilität m. M. nach nicht lernen aber man kann achtsam sein, und seine sinnpbewusster nutzen.
Die Gefahr bei sensiblen Menschen ist, dass sie oft weniger belastbar sind, da sie die Umwelt intensiver wahrnehmen und die heutige Umwelt ist nicht immer positiv.
Ich denke auch, dass besonders sensible Menschen eher zu Depressionen neigen, weil gravierende Ereignisse in ihrem Leben sie oft aus der Bahn werfen. Also denke ich, dass auch besonders sensible Menschen lernen müssen, mit belastenden Dingen anders umzugehen. Vor allen Dingen habe ich gelernt, dass es keinen Sinn macht, sich immer wieder mit der Vergangenheit oder Zukunft zu beschäftigen. Hier empfehle ich weitgehend nur im Jetzt zu leben, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln und öfter auch mal Nein zu sagen.
Vielen Dank für diesen Artikel.. ich bin auch gerade taub… Liebe Grüße Susie
Diese Sensibilität haben wir wahrscheinlich traumatischen Erlebnissen zu verdanken, damit wir in einer kommenden ähnlichen Situation vorbereitet sind. Allergien sind ebenfalls solche Frühwarnsysteme. Ich habe große Hochachtung vor den Fähigkeiten eines Allergikers (ich war selbst extrem empfindlich auf Pferde, bis hin zum Anaphylaktischen Schock), konnte 20 Jahre lang die Sonne nicht auf der Haut ertragen, von ’normalen‘ Allergien wie Gräsern, Pollen, Tierhaaren, -federn und was auch immer ganz zu schweigen. Wenn wir lernen, die Zusammenhänge zu verstehen, kann sich auch einiges normalisieren.
Danke für den Beitrag über Sensibilität